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Freyas Verärgerung

Freyas Verärgerung

Holger entdeckte die Katastrophe am Dienstagmorgen, als er – wie jeden Morgen seit drei Wochen – vorsichtig um die Stelle herumging, wo Freyas Wichteltür stehen sollte. Stattdessen fand er ein Trümmerfeld aus winzigen Holzsplittern, die aussahen wie die Überreste einer sehr kleinen, aber sehr entschiedenen Explosion. Die Tür, normalerweise nicht größer als eine Briefmarke mit Ambitionen, war offensichtlich mit einer Wut demoliert worden, die Holger bisher nur von Steuerbescheiden kannte.

Die Entdeckung der Zerstörung

„Aha“, sagte Holger zu seinem Wasserkocher, der heute besonders schweigsam war, „da hat jemand schlechte Laune gehabt.“ Er kniete sich hin und betrachtete die Verwüstung mit der Sorgfalt eines Archäologen, der gerade eine sehr kleine, aber bedeutsame Zivilisation ausgegraben hat. Zwischen den Splittern lag ein winziges Schild, auf dem in Freyas charakteristischer Handschrift stand: „VORÜBERGEHEND GESCHLOSSEN WEGEN EXISTENZIELLER KRISE.“

Das Bücherregal, normalerweise die Verkörperung diplomatischer Zurückhaltung, neigte sich einen Zentimeter weiter vor als gewöhnlich – ein Zeichen dafür, dass auch es von den Ereignissen betroffen war.

Das missverstandene Weihnachtsprojekt

Der Grund für Freyas Verärgerung war, wie Holger nach einigem Nachdenken und dem Studium weiterer winziger Zettelchen herausfand, ein klassisches Missverständnis zwischen Wichtel-Ästhetik und menschlichem Gestaltungswillen. Seine Nachbarin, Frau Kowalski, hatte beschlossen, dass der Hausflur „weihnachtlicher“ werden müsse. „Weihnachtlicher“ bedeutete in ihrem Verständnis: mehr Licht, mehr Glitzer, mehr von allem, was blinkt.

Sie hatte eine Lichterkette installiert, die nicht nur leuchtete, sondern auch Melodien abspielte – und zwar nicht die dezenten Adventslieder, die Freya schätzte, sondern eine Version von „Jingle Bells“, die klang, als würde sie von Robotern gespielt, die gerade einen schlechten Tag hatten. Außerdem hatte Frau Kowalski künstlichen Schnee versprüht, der nach Chemie roch und sich wie das Gegenteil von Winter anfühlte.

Das Schlimmste aber war der Weihnachtsmann aus Plastik, den sie direkt vor Freyas Wichteltür platziert hatte. Dieser Weihnachtsmann war nicht nur viel zu groß – er war etwa so groß wie ein mittlerer Blumentopf –, sondern auch noch batteriebetrieben und sagte alle fünf Minuten „Ho ho ho“ mit einer Stimme, die klang, als hätte er Halsschmerzen und schlechte Laune gleichzeitig.

Freya, deren Vorstellung von Weihnachten eher in Richtung „stille Eleganz mit Tannenduft-Akzenten“ ging, empfand dies als persönlichen Angriff auf alles, was sie für schön und richtig hielt. Holger fand einen weiteren winzigen Zettel: „WEIHNACHTEN IST KEIN RUMMELPLATZ!!!“

Der methodische Zorn

Die Zerstörung ihrer Tür war Freyas Art gewesen, ein Statement zu setzen. Holger stellte sich vor, wie sie – kaum größer als sein Daumen, aber voller nordischer Entschlossenheit – mit einem winzigen Hammer bewaffnet auf ihre eigene Tür losgegangen war. Wahrscheinlich hatte sie dabei Dinge gemurmelt, die in Wichtelsprache ungefähr bedeuteten: „Wenn schon Chaos, dann wenigstens selbstbestimmtes Chaos.“

Er fand sogar den winzigen Hammer, nicht größer als ein Streichholzkopf, ordentlich neben die Trümmer gelegt. Freya war auch in ihrer Wut noch organisiert geblieben – eine Eigenschaft, die Holger sehr schätzte. Der Hammer lag auf einem weiteren Zettel: „Benutzt für gerechte Sache. Kann zurückgegeben werden, wenn Welt wieder vernünftig wird.“

Die Art, wie die Tür zerstört worden war, verriet allerdings auch Freyas inneren Zwiespalt. Sie hatte nicht einfach draufgeschlagen – sie hatte die Tür methodisch in gleichmäßige, kleine Teile zerlegt, als wäre sie ein sehr kleiner, aber sehr gewissenhafter Möbelpacker gewesen, der rückwärts arbeitet. Sogar die winzigen Scharniere waren säuberlich abmontiert worden.

Holgers gutmütige Reparatur

Holger tat das, was gutmütige Menschen tun, wenn sie mit den Folgen fremder Verzweiflung konfrontiert werden: Er ignorierte die Verzweiflung nicht, aber er machte sie auch nicht zu seiner eigenen. Stattdessen ging er in den Baumarkt und kaufte Holz – allerdings nicht irgendwelches Holz, sondern Holz aus dem Norden, das nach Geschichten und langen Wintern roch.

Er baute Freya nicht einfach eine neue Tür, er baute ihr eine bessere Tür. Eine Tür mit winzigen Scharnieren, die so leise waren, dass sie auch bei nächtlichen Wichtel-Aktivitäten niemanden störten. Eine Tür mit einem winzigen Briefschlitz, durch den Freya ihre philosophischen Notizen reichen konnte. Und eine Tür mit einer fast unsichtbaren Aufschrift: „Hier wohnt das Gute, auch wenn es gerade schlechte Laune hat.“

Als er fertig war, stellte Holger die neue Tür genau dort auf, wo die alte gestanden hatte. Dann ging er diskret in die Küche und bereitete Tee zu – einen Tee, der so gut roch, dass selbst verärgerte Wichtel neugierig werden mussten.

Am nächsten Morgen war die Tür einen Spaltbreit geöffnet, und aus dem Spalt kam ein Geruch nach Tannennadeln und Dankbarkeit. Auf Holgers Küchentisch lag ein winziger Zettel: „Danke. Habe verstanden, dass manchmal kaputt machen der erste Schritt zum Reparieren ist. Die Welt ist wieder vernünftig. P.S.: Frau Kowalski hat den Plastik-Weihnachtsmann gegen eine Kerze getauscht. Manchmal wirken Wunder rückwirkend.“

Holger lächelte und dachte: Früher hätte man gesagt, alles ist wieder in Ordnung. Heute sagt man: Alles ist wieder wichtelig. Das ist eine noch bessere Entwicklung.

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