Der Weihnachtsmarkt am Rathausplatz sah aus wie früher. Holger nickte zufrieden. Holzbuden, Tannengirlanden, der Geruch von gerösteten Mandeln. Wie in seiner Kindheit, nur dass die Preise mittlerweile astronomisch waren.
„Sechs Euro für einen Glühwein“, murmelte er und betrachtete skeptisch den Becher. Früher hatte das eine Mark gekostet. Aber wenigstens schmeckte er noch genauso: süß, nach Zimt und leichtem Fusel.
Sein Smartphone summte. Anna: „Dad, warst du schon auf dem erotischen Weihnachtsmarkt? Meine Kolleginnen sagen, der ist mega!“
Holger verschluckte sich am Glühwein. Erotischer Weihnachtsmarkt? Er googelte hastig. Tatsächlich: In Hamburg, direkt neben dem traditionellen Markt, warb ein „Weihnachtsmarkt für Erwachsene“ mit „heißen Leckereien und feurigen Überraschungen“.
„Früher“, dachte er, „gab es Bratwurst und Karussell. Punkt.“
Aus wissenschaftlicher Neugier – so redete er es sich ein – fuhr er am nächsten Tag nach Hamburg. Der normale Weihnachtsmarkt unterschied sich kaum von dem zu Hause. Glühwein, Reibekuchen, Räuchermännchen aus dem Erzgebirge. Eine beruhigende Konstante in chaotischen Zeiten.
Dann sah er das Schild: „Santa’s Secret Garden – Adults Only“. Ein roter Samtvorhang versperrte den Eingang. Davor stand ein Weihnachtsmann mit verdächtig muskulösen Armen.
„Einlass ab 18“, grinste der Mann. „Heute Abend Glühwein-Tasting mit Sinnlichkeits-Coaching.“
Holger starrte ihn an. „Was ist denn Sinnlichkeits-Coaching?“
„Lernen Sie, bewusster zu genießen! Glühwein mit allen Sinnen erleben!“
Das klang weniger skandalös als erwartet. Fast… pädagogisch wertvoll?
Neugierig betrat er den abgetrennten Bereich. Die Buden sahen aus wie überall, nur dass die Verkäuferinnen Santa-Kostüme trugen, die etwas knapper geschnitten waren. An einem Stand verkaufte eine Frau „Liebes-Lebkuchen“ in anatomisch interessanten Formen.
„Für das Spiel zwischen den Partnern“, erklärte sie fachmännisch. „Aus biologischen Zutaten, aphrodisierend gewürzt.“
Holger betrachtete die Lebkuchen-Skulpturen. Früher hatten Lebkuchen wie Lebkuchen ausgesehen. Heute gab es offenbar auch… andere Formen.
„Probieren Sie unseren Sinnlichkeits-Glühwein!“, rief ein Mann mit Weihnachtsmütze. „Mit Chili, Ingwer und… geheimen Zutaten.“
Der Glühwein schmeckte tatsächlich interessant. Schärfer, komplexer als der traditionelle. Holger musste zugeben: nicht schlecht.
Am Nachbarstand bot eine Frau „Massage-Öle mit Weihnachtsduft“ an. „Zimt-Orange für romantische Stunden“, erklärte sie. „Komplett vegan und fairtrade.“
Fairtrade-Erotik. Das hätte es früher definitiv nicht gegeben.
Ein junges Paar kaufte „Adventskalender für Erwachsene“. Holger lugte neugierig rüber – 24 kleine Päckchen mit… nun ja, sagen wir: überraschenden Inhalten.
„Früher“, dachte er, „waren Adventskalender mit Schokolade gefüllt.“
Er machte ein Foto für Anna: „Wissenschaftliche Feldforschung auf dem erotischen Weihnachtsmarkt.“ Die Antwort kam sofort: „OMG Dad! Du bist so cool! Meine Freundinnen flippen aus!“
An der Glühwein-Bar kam er mit einem Paar ins Gespräch. Sie, Ende dreißig, Unternehmensberaterin. Er, Mitte vierzig, IT-Experte.
„Wir kommen jedes Jahr hierher“, erzählte sie. „Das ist viel entspannter als die überfüllten normalen Märkte. Und ehrlicher.“
„Ehrlicher?“
„Na ja“, lachte ihr Partner, „Weihnachten ist doch sowieso ein Fest der Sinnlichkeit. Kerzen, warmes Licht, Gemütlichkeit. Hier wird das nur nicht versteckt.“
Holger nickte nachdenklich. Vielleicht hatten sie recht. Vielleicht war das nur eine andere Art von Weihnachtsromantik.
Auf der Heimfahrt kaufte er noch Lebkuchen – die ganz normalen, herzförmigen. Aber er musste schmunzeln, als er an die anatomischen Varianten dachte.
„Früher war alles einfacher“, tippte er Anna. „Heute ist alles komplizierter – aber auch interessanter.“
Die Antwort: „Welcome to 2025, Dad! 
„
Der erotische Weihnachtsmarkt war nicht seine Welt. Aber es war auch nicht die Hölle. Es war einfach… eine andere Welt. Eine, die er jetzt ein bisschen besser verstand.
